Betreff: Nie

Emma gehört zu meiner weitläufigeren Bekanntschaft, sie wohnt in meiner Straße. Neulich sprang sie über den Zaun, als Herrchen und ich eben vorübergingen. Sie gleich auf mich los, keine Ahnung weshalb. Ein paar Haare meines schönen Fells habe ich dabei verloren, aber sonst ging es glimpflich ab, obwohl es anders aussah. Emmas Frauchen sagte: „Das hat sie noch nie gemacht.“

 

Das hat er/sie noch nie gemacht. Dieser Satz dürfte der am meisten gebrauchte in der Beziehung zwischen Frauchen, Herrchen, Hund und dem Rest der Welt sein. Dabei ist er ein Widerspruch in sich. Er wird ja verwendet, wenn jemand gerade etwas gemacht hat, also von wegen nie. Außerdem wird er auch gar nicht als Aussagesatz verwendet, er hat vielmehr etwas Emotionales, drückt halb Überraschung oder gar Entsetzen aus, halb will er um Entschuldigung bitten für das, was da gerade passiert ist, was auch immer.

Auf mich findet dieser Satz trotz seiner Popularität kein Anwendung. Denn was sollte ich noch nie gemacht haben? Emma ist nur dieses eine Mal über den Zaun des eigenen Grundstücks gesprungen, ich wohl auf unserem Grundstück mehr als ein dutzend Mal, und zwar im Schlusssprung. Ich habe Postbotinnen gebissen und selbstverständlich auch Herrchen. Ich habe Knochen gebrochen und Daumen verstaucht. Ich habe mich auf Jagdausflüge aller Art begeben. Ich habe mich an Schafen vergriffen und Fahrradfahrer als davonlaufendes Wild betrachtet. Ich habe Wohnungseinrichtungen zerlegt und in der Küche die Vorräte geplündert. Ich habe ins eigene Haus gekackt, mich darin auch mal übergeben und allen möglichen Unrat hinterlassen. Ich habe Schokolade in lebensbedrohlichem Ausmaß gefressen und Herrchen durch einen entschiedenen Zug an der Leine vom Fahrrad geholt. Ich habe meiner Hausärztin die Zähne gezeigt und Besucher zu Hause nicht eingelassen. Ich habe Leinen durchgebissen und Sicherheitsgeschirre abgestreift. Noch heute gestalte ich Hundebegegnungen sehr kraftvoll aus. Und so könnte ich fortfahren. Da scheint mir nicht mehr viel Platz für ein „noch nie“.

Andererseits sollte man niemals nie sagen. Ich habe schon oft Herrchen angeknurrt, aber noch nie, wenn ich in meinem Rückzugsort Box lag. Auch nicht, wenn er abends noch einmal sein Gesicht in die Box hält und mich durch langatmige Tagesauswertungsvorträge am Schlummern hindert. Neulich aber ist er halb hineingekrochen in meine Box und hat seinen Kopf auf meinen Bauch gelegt, genauer gesagt sein Ohr. Das hat er noch nie gemacht. Ich habe das durch ein sehr deutliches Knurren kommentiert. Nun, zugegeben, es kollerte ein wenig in meinem Bauch, Herrchen wird eine Verdauungsstörung vermutet haben. Es war aber keine Verdauungsstörung, sondern schlicht der Hunger.