Betreff: Müllsack

Neulich gab es ein Straßenfest bei uns, der Festplatz lag schräg gegenüber von meinem Grundstück. Ich wurde nicht mitgenommen und konnte mir, abgestellt wie einen Gegenstand, die Lampions von weitem durch unsere Gartenpforte hindurch anschauen. Das wurde mir bald langweilig, weshalb ich hinten über den Gartenzaun ging und ein Wettrennen mit Damwild im Dunkeln veranstaltete. Nachtläufe sind ja sehr populär.

 

Aber was ich eigentlich erzählen will: Zur Ausstattung des Festes gehörte ein Müllsack, der an einem Holzstapel befestigt war. Herrchen dürfte während des Festes den Müllsack nur wahrgenommen haben, wenn er etwaige Abfälle hineintat. Am nächsten Tag hatte er den Sack vergessen.

Anders bei mir. Der Müllsack trat naturgemäß erst am Morgen nach dem Fest in mein Leben, begann dort aber sogleich eine große Rolle zu spielen. Zu verführerisch roch es da. Das ließ auf schmackhafte Reste schließen, und sei es nur, die Plastikteller darin blitzblank zu lecken. Fortan schlurfte Herrchen zwar bei jedem Gassigang ohne Blick auf die Festwiese in üblicher Gewohnheit die Straße hinunter, ich aber bog ab und versuchte, des Sackes habhaft zu werden. Das gelang mir nicht, öffnen konnte ich ihn nur rein geistig, wenn man so will. Hervor traten nicht Suppenreste mit Fleischfasern, sondern eine erkenntnistheoretische Herausforderung. Zwar ist Erkenntnistheorie, wie der Name schon sagt, vorwiegend eine theoretische Sache, aber hier haben wir es mit einer überaus praktischen Frage zu tun. Entsorgung ist immer praktisch.

Zwar mag Herrchen dem Müllbeutel mit Ach und Krach eine Existenz zugebilligt haben, aber in seinem Blick auf die Dinge dürfte der Sack den allerletzten Rang eingenommen haben, noch hinter den hauseigenen Mülltonnen. Mir aber wurde der Sack, je länger er dort hing, immer bedeutender, ja, ich kann sagen, er wurde mir, zumindest zeitweise, die Welt. Wie ist es aber möglich, dass ein Gegenstand für meine Welt ungleich bedeutender ist als für die Welt von Herrchen obwohl wir doch erkennbar in einer Welt leben, der Welt unseres kleinen Rudels?

Aber ist die Welt wirklich erkennbar, gibt es sie überhaupt? Existieren die Dinge unabhängig von uns, in die Welt gestellt durch Gott oder den Urknall mit all seinen fatalen Folgen? Wenn es so wäre, was wäre damit gewonnen, wo doch jeder einen anderen Blick auf die Dinge hat und dieser Blick für das Dasein viel entscheidender ist als die Dinge selbst. Denn was nützt ein Müllsack, wenn ich ihn nicht wahrnehme? Existierte er überhaupt, wenn ich ihn nicht wahrnehmen würde?

Existiert Herrchen überhaupt oder lebe ich allein in einer Welt meiner Vorstellung, in der ich mir auch Herrchen und den Müllsack vorstelle? Ja, gibt es mich überhaupt oder bin ich nur die Vorstellung eines anderes, vielleicht der von Herrchen?

Und wenn das alles schon unklar bleibt, was kann dann überhaupt als wahr gelten? Ist der praktisch leere Napf, der mir zweimal am Tag von Herrchen gereicht wird, wahr, auch wenn Herrchen ihn im Gegenteil als sehr gut gefüllt betrachtet? Ist der Napf am Ende sogar gut gefüllt, auch wenn ich ihn als leer ansehe? Gibt es den Napf überhaupt?

So viele Fragen. Aber ich bin überzeugt, ich finde die Antwort und mit ihr die große Wahrheit, wenn ich nur erst diesen verdammten Müllsack vom Nagel und aufgerissen habe. Passend als Antwort wäre vielleicht: Die Wahrheit ist konkret. Brecht sah das offenbar so, der Satz stand auf einem Dachbalken in dem Haus, wo er im dänischen Exil lebte, in Svendborg. Aber typisch Brecht, bei näherem Hinschauen führt er auch nie weiter. Zumal er Müllsäcke konkret gar nicht kennen konnte, die kamen erst viel später auf.

Kommentare

  1. Hallo Elvis ,was sagte denn dein Herrchen zu deinem nächtlichen Spaziergang? Das kann für dich gefährlich werden....das zeigt, dass dein Freiheitsdrang ziemlich groß ist.....:-))

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