Betreff: Drachenblut
Ich habe seit einiger Zeit eine Verfärbung an einer – leider gut sichtbaren – Stelle meines Fells. Sonst rotblond bin ich dort hellblond. Mit einem kräftigen Schielen ließe sich behaupten, der Fleck habe die Form eines Lindenblatts.
Und da sind wir dann gleich beim Helden Siegfried, der den Lindwurm erschlägt und in dessen aus der tödlichen Wunde sprudelndem Blut badet, was ihn unverwundbar macht – bis auf die eine Stelle zwischen den Schulterblättern, wo ein Lindenblatt landet und wohin sich später Hagens Lanze bohrt. Ein schönes Beispiel für das alte Murphy-Gesetz: Was schief gehen kann, geht schief. Für mein fatalistisches Herrchen ist das nicht nur eine seiner Lieblingsgeschichten, sondern auch einer seiner Lebensgrundsätze.
Auch andere Helden hat es in ähnlicher Weise getroffen. Achill etwa. Seine Mutter Thetis hatte ihn ebenfalls durch ein Bad unverwundbar gemacht, nur nicht an der Stelle, wo sie den Kleinen hielt, als sie ihn in die Unverwundbarkeitsbrühe des Styx‘ eintauchte – an der Ferse, der sprichwörtlich gewordenen Achillesverse. Prompt traf ihn dort vor Troja der Pfeil des Paris, jenes trojanischen Prinzen, der durch den Diebstahl der Helena den Krieg überhaupt erst ausgelöst hatte – eine lange und komplizierte Geschichte, die schon deshalb öde ist, weil an ihrem Ende ein Pferd auftaucht, noch dazu ein hölzernes, und nirgendwo ein Hund.
Bei Heldin Frauchen war es mit der schwachen Stelle genau umgekehrt. Als ich einmal kräftig anzog und sie zu Fall brachte, riss sie sich ihren schicken Parka an einer Stelle auf. Die ist inzwischen gestopft, und auf der Stopfstelle prangt ein Flicken, nicht in Form eines Lindenblattes, sondern, viel schöner, einer Hundepfote.
All diese Geschichten zeigen, dass auch die vollkommensten Helden ihre schwache Stelle haben. So gesehen macht mich auch meine Stelle im Fell zu einem Helden. Oft werden wir, Herrchen und ich, ja darauf angesprochen. Es macht mich unverwechselbar, auf sehr sichtbare Weise. Freilich wäre ich auch ohne Fellverfärbung unverwechselbar und populär, Herrchen sagt manchmal einfach so zu mir: „Mein Held.“
Durch die Fellverfärbung bin ich gezeichnet, wie alle Großen gezeichnet sind, ob nun durch eine Lindenblattstelle, eine Achillesverse, einen Pfoten-Flicken oder mehr im übertragenen Sinn durch ihr Schicksal. Groß und gezeichnet wie auch Gottfried Benn. Auf den komme ich, weil er dem „gezeichneten Ich“ eines seiner besten Gedichte gewidmet hat. „Nur zwei Dinge“ heißt es, Herrchen liebt daran „den vollen Benn-Klang“: „Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere/ was alles erblühte, erblich,/ es gibt nur zwei Dinge: die Leere/ und das gezeichnete Ich“. Genau! Auch die Leere kenne ich gut, am sichtbarsten in meinem Napf.
Tja, Gottfried Benn, der wusste es. Viele Frauen hatte er, das ist bekannt und seltsam für einen Arzt, der Geschlechtskrankheiten behandelt. Aber hatte er auch einen Hund? Und wenn er einen hatte, war der auch gezeichnet wie ich?
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