Betreff: Zeitung lesen
Neulich trafen wir zwei Wanderer im Wald, die gerade wieder ins Auto steigen wollten und einen Hund dabei hatten. Herrchen, etwas voraus, blieb mit seinem Fahrrad bei den Wanderern stehen, um sicherzustellen, dass ich, wenn ich heran bin, weder mit dem Hund etwas anfange noch die Habseligkeiten der Leute auf Drogen durchsuche. Ich aber ließ mir, ein paar Meter entfernt, Zeit, schnüffelte hier, pieselte da. Herrchen wurde unruhig, aber der eine Wanderer sagte voller Güte in meine Richtung: „Der muss erst noch die Zeitung lesen.“
Hört man ja häufig über einen schnüffelnden Hund: Er liest die Zeitung. Eine hübsche Formulierung, finde ich. Sie erscheint nur oberflächlich seltsam. Die tiefere Gemeinsamkeit besteht doch darin, dass beim Schnüffeln wie beim Zeitunglesen Informationen gegeben, zur Kenntnis genommen werden und gegebenenfalls darauf reagiert wird (hier als Markieren, dort als Leserbrief).
Was nun Herrchen und mich anbelangt, so hat das Zeitunglesen für uns noch eine besondere Bedeutung. Ja, es gibt sogar eine Dreiecksbeziehung zwischen Zeitung, Herrchen und mir. Ich erwähnte es schon häufig, dass Herrchen nicht nur ein Zeitungsleser ist, sondern auch ein Zeitungsredakteur war. Zum Ende seiner Redakteurszeit trat ich in sein Leben, die frühere Leidenschaft für Zeitungen metamorphierte zu einer Leidenschaft für mich. Warum auch nicht, mit den Zeitungen ist es sowieso bald vorbei.
Neulich nun schaute Herrchen einen Film, wo die Zeitung noch so vorkam, wie sie ihn einst faszinierte. Ein Zeitungsjunge trägt die schwarzweiß gedruckten Zeitungen aus, sie fallen in die Türschlitze und werden dort von den Abonnenten aufgehoben, um beim Frühstück gelesen zu werden. So wissen alle im Ort gleichzeitig Bescheid, im Fall des Films auch über die Anzeige, die einen Mord ankündigt, denn es war ein Krimi. In einer Szene sitzt sogar ein großer schwarzer Hund neben seinem Herrchen am Frühstückstisch und bekommt von dem Herrchen aus der Zeitung vorgelesen. Der Mord hat dann wohl auch stattgefunden, aber da schliefen wir schon, es war ein langweiliger Film.
Immerhin zeigte der Film noch einmal, dass Zeitunglesen nicht nur das Lesen einer Zeitung meint, sondern eine Kulturtechnik. Und die nimmt so ziemlich den gesamten Körper in Anspruch, die Augen sowieso, vermutlich auch das Gehirn, aber auch den Mund wegen des Frühstücks, das Ohr wegen des charakteristischen Raschelns von Zeitungspapier, die Nase wegen des Geruchs der Druckerschwärze, die Fingerspitzen wegen des haptischen Gefühls beim Blättern. Selbst die Darmtätigkeit ließ sich davon beeinflussen, denn viele Menschen lasen Zeitung, während sie sich lösten. Leopold Bloom etwa im „Ulysses“. Er geht an dem berühmten Bloomsday, dem 16. Juni, nach dem Frühstück mit der Zeitung ins Herzhäuschen auf dem Hof, liest das Blatt und benutzt es anschließend noch anderweitig.
Warum ich das erwähne? Weil ich dafür bin, es bei dem Wort Zeitunglesen zu belassen, wenn wir Hunde schnüffeln und strullen, selbst dann, wenn eigentlich niemand mehr so genau weiß, was Zeitunglesen eigentlich ist. Zeitunglesen klingt allemal besser als Schnüffeln, wo man immer gleich an Stasi denkt. Vielleicht ist „die Zeitung lesen“ irgendwann so eine Redensart wie „ins Bockshorn jagen“, von der man ja auch nicht mehr weiß, woher sie stammt.
Und übrigens finde ich, dass das Zeitunglesen, so oder so, überschätzt wird. Ich jedenfalls habe, während Herrchen bei den Wanderern auf mich wartete, nichts wirklich Neues erfahren. Und eigentlich wollte ich ja auch nur Herrchen ein bisschen ärgern und warten lassen.
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