Betreff: Krise als Chance

Neulich klagte Herrchen unserer Knurr-Freundin, ich könne auch nach jahrelangem Training Krisensituationen nicht wirklich meistern. In Krisen klappe es nicht mit dem Rückruf. Bei Begegnungen mit mir fremden Hunden fühle es sich oft an wie Mafia-Bandenkrieg auf offener Straße. Wenn ich einen mehr oder weniger ansprechenden Happen am Wegesrand finde, knurre ich selbst ihn, Herrchen, an, wenn er sich zwischen mich und den Happen stellen will.

 

Was soll unsere Knurr-Freundin auf Herrchens Anschuldigungen sagen? Das eigentliche Problem liegt doch darin, dass Herrchen das Wesen von Krisen nicht begriffen hat. Ich dafür umso mehr.

Um die Komplexität des hier angeschnittenen Themas richtig zu verstehen, muss ich auf den soziophobischen Zug bei Herrchen verweisen. Feste und Partys, selbst gemütliches Beisammensein oder Essen mit Freunden – er würde natürlich „Essen mit Freunden“ ironisch in Gänsefüßchen setzen – lösen bei ihm nicht Freude und Zufriedenheit aus, sondern bedeuten für ihn Krisenbewältigung. Folgerichtig sind meine Neugier auf andere Menschen oder Hunde wie auch auf neue kulinarische Erlebnisse am Wegesrand – also so ziemlich alles, was mich aufrichtig begeistert und aus der grau-melancholischen Atmosphäre meines Zuhauses entführt – für Herrchen mit Krisen verbunden. So wie neulich bei dem Hirsch, der majestätisch vor uns über unsere Nebelwiese zog. Herrchen stand kontemplativ und starr vor Bewunderung. Ich hingegen wollte schon wissen, wer schneller laufen kann, der Hirsch oder ich, und ob das prächtige Geweih wirklich echt war oder doch nur von Ikea.

Woran wir erkennen: Was für Herrchen Krise ist, bedeutet für mich gelebtes Leben. Und das ist nicht nur herrlich in dem Augenblick, da ich es erlebe. Auch die Nachwirkungen sind einfach phantastisch. Wenn ich abends mein missmutiges Herrchen aufmuntere, indem ich ihn mit der Schnauze freundlich stupse, oder beim Mittwochabendtraining perfekte Übungen hinlege, entdeckt er plötzlich wieder seine Liebe zu mir. Dann geht er tatsächlich auch noch einmal in die Küche, um mir ein spätes Ei zu reichen oder ein Würstchen. Und ich muss nichts weiter tun, als vor dem Kamin liegen und lieb gucken. Selbst nach der Hirsch-Krise, als ich Herrchen eine gewisse Weile hatte warten lassen, war es übrigens so.

Dass Krisen Chancen seien, steht in jedem Ratgeber für gelingendes Leben. Herrchen kotzt, wenn er so was liest. Ich aber muss hier sagen: Auf mein Leben trifft es hundertprozentig zu.

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