Betreff: Nach Hause

Der Holm ist eine von drei Seen umglitzerte Halbinsel, die wir manchmal auf einem unser etwas ausgedehnteren Gassigänge besuchen, im Sommer hin und wieder auch mit einem Bad verbunden. Der Weg hat seinen Reiz, es geht über eine Fußgänger- und Fahrradbrücke, und schon sind wir in der tiefsten Stille, allein berauscht vom Wald. Dort auf dem Holm aber ließ Herrchen mich neulich sitzen. Einfach so, wie Hänsel und Gretel, mitten im Wald.

 

Dabei war es bis dahin ein so schöner Ausflug gewesen, voller Lust und guter Laune, bei besten Kräften. Nun ja, ich habe diese herrliche Stimmung mittels eines jagdlichen Impromptu noch bereichern wollen, das gebe ich zu. Aber mir kam dabei nicht nur das avisierte Wild abhanden, sondern auch Herrchen.

Natürlich will Herrchen bis heute nicht einsehen, dass er es auf dem Holm verdorben hat. Er gibt vielmehr der „maroden deutschen Infrastruktur“ die Schuld, also mit einer neuerdings gern verwendeten Wendung. Die Wortwahl finde ich übertrieben, weil die Infrastruktur nicht marode ist, sondern es gar keine gibt. Wozu braucht man auch auf dem abgelegenen Holm ein Funknetz, über das Herrchen mich hätte orten können? Sein Handy zeigte nur alle paar Minuten meinen Standort – also einen Punkt, wo ich mich in Wirklichkeit schon gar nicht mehr aufhielt, ich bin ja schnell.

Was sollte ich tun? Ich dachte an Novalis, den Herrchen so oft zitiert mit seiner berühmten Frage und Antwort: „Wohin gehen wir? Immer nach Hause.“ Für Herrchen ist das übrigens die – armselige – philosophische Begründung, das Grundstück überhaupt nicht mehr verlassen zu müssen, wie er es am liebsten hätte.

Nun stellen wir uns belustigt Herrchens Überraschung vor, als die Standortanzeige auf seinem Handy auf einmal nicht mehr diesen oder jenen Punkt auf dem Holm zeigte, sondern unser Haus. Er irrte noch irgendwo auf dem Holm herum und dann muss er sehen: Ich bin längst zu Hause und warte dort auf das nach ausgedehnteren Gassigängen fällige hochwertige Leckerli.

Und mit noch mehr Vergnügen stellen wir uns Herrchens Überraschung vor, als er, endlich mit seinem Fahrrad in unsere Straße einbiegend, das Postauto vor unserem Haus sah. Herrchens strapaziöse Dauererwartung von Katastrophen erwartete sogleich die ganz große Katastrophe: Ich frei vor dem Haus, weil alle Türen zu Haus und Garten abgeschlossen, die Postbotin mir unrettbar ausgeliefert. Was für ein Tableau hoher, höchster Dramatik!

Ich allerdings, durchaus etwas erschöpft von der ganzen Lauferei und der in mir mit Blick auf die Leckerli-Sache nagenden Ungewissheit, ob Herrchen womöglich das passiert war, was er für mich vermutet hatte: für immer verlorengegangen zu sein auf dem weiten Holm, ich also lag ganz friedlich vor der Gartenpforte, nickte der Postbotin freundlich zu und sah mit untergeschlagenen Vorderläufen entspannt zu, wie sie unseren Briefkasten befüllte und weiterfuhr. Auch waren meine Gedanken dabei gar nicht bei ihr, sondern bei der ungeklärten Leckerli-Frage.

Herrchen hätte bei seiner so späten Ankunft wirklich eine Träne der Rührung darüber fließen lassen können, wie gut ich Novalis verstanden habe, denn welcher Hund vermag das schon? Aber was kam? Wortlos wurde ich in den Garten geschickt und nichts mit Leckerli. Zum Glück konnte ich dort endlich aus der Gießkanne einen Schluck trinken, denn mich dürstete doch sehr.

Kommentare

  1. Tolle Leistung, Elvis! Eine Stunde Fußweg von daheim, da bist du natürlich viel schneller als dein Herrchen. Und vor allem ohne GPS oder anderen Schnickschnack.

    AntwortenLöschen
  2. Mein liebster Enkelhund Elvis, wie immer, bin ich ganz begeistert von deinem Blog.Ich freue mich, dich Dienstag drücken zu können (auch dein Herrchen und Frauchen).Du bist eben ein superinteligentes Familienmitglied. Die Uroma

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Betreff: Nie

Betreff: Thermomix

Betreff: Kind und Kegel